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Shared Decision Making - Arzt und Patient auf Augenhöhe

11. März 2022 | von Ingrid Müller
Aktualisiert und medizinisch geprüft am 11.3.2022
Ingrid Müller, Chefredakteurin und Medizinjournalistin

Shared Decision Making bedeutet, dass Arzt, Ärztin und Patient ein Team sind. Zusammen entscheiden sie über Diagnosemethoden und alle Behandlungen. Die meisten Patienten finden die gemeinsame Entscheidungsfindung gut.

Kurzübersicht

  • Was ist Shared Decision Making? Eine gemeinsame Entscheidungsfindung auf Augenhöhe bezüglich der Diagnosemethoden und Behandlungen
  • Was bringt es? Patienten bleiben ihrer Therapie eher treu, wenn sie mitentschieden haben - die meisten informieren sich ohnehin im Internet
  • Wie funktioniert Shared Decision Making? Patienten sind an sämtlichen Entscheidungsprozessen beteiligt, gute kommunikative Fähigkeiten der ärztlichen Fachleute sind gefragt
  • In welchen Schritten? Laienverständliche Informationen über Krankheit, Behandlungen und Alternativen, Entscheidungshilfen geben, alles gemeinsam abwägen, Plan erstellen
  • Positive Effekte: z.B. mehr Vertrauen, Wissensgewinn, Teilhabe, bessere Gesundheit, weniger Komplikationen
  • Stand in Deutschland: Viele finden Shared Decision Making gut, aber an der Umsetzung im praktischen Alltag hapert es noch

Was ist Shared Decision Making?

Shared Decision Making (SDM) ist ein noch relativ junger Ansatz in der Medizin, bei dem Arzt, Ärztin und Patienten gleichberechtigt auf Augenhöhe miteinander kommunizieren und auch so handeln. Gemeinsam legen sie zum Beispiel eine Therapie fest, stehen hinter ihr und verantworten diese auch zusammen. Der deutsche Begriff für das Shared Decision Making ist partizipative oder partnerschaftliche Entscheidungsfindung

Patienten und Patientinnen haben dabei eine aktivere Rolle, mehr Eigenverantwortung und sind somit ein wichtiger Teil des Entscheidungsprozesses. Die Bertelsmann Stiftung fand heraus, dass viele Patienten das Shared Decision Making sogar sehr gut finden: Mehr als die Hälfte (55 Prozent) der Befragten gab an, an der Entscheidungsfindung bei Untersuchungen und Behandlungen teilhaben zu wollen. Der „Mitmach-Patient“ ist also gefragt.

Wissen über Prostatakrebs?

Viele Männer tappen im Dunkeln, besonders wenn es um die Therapieentscheidung geht.

Shared Decision Making: Was bringt es?

Dass Ärzte und Ärztinnen ihren Patienten paternalistisch – also von oben herab – Behandlungen verordnen, gehört heute meist der Vergangenheit an. Früher galten Ärzte als „Götter in Weiß“, welche die alleinige Autorität hatten. Ohne Mitsprache ihrer Patienten entschieden sie über die Therapie, die sie für am besten hielten. Das Ergebnis war, dass viele Patienten ihre Medikamente in der Schublade verschwinden ließen und sie nicht einnahmen, weil den Sinn und Zweck der Behandlung nicht einsahen. 

Bekannt ist heute, dass Patienten, die nicht hinter ihrer Therapie stehen, dieser auch oft nicht treu bleiben. Sie neigen eher dazu, sie nicht konsequent durchzuführen oder sie sogar abzubrechen. Compliance, also Therapietreue, ist das englische Fachwort dafür.

Das Agieren der Ärzte ohne die Einbeziehung ihrer Patienten ist heute umso mehr überholt, weil sich das Informationsverhalten grundlegend gewandelt hat: Laienverständliche medizinische Informationen sind heute auf vielen Webseiten im Internet frei zugänglich. Und die meisten Patienten befragen vor oder nach einem Arztbesuch ohnehin Dr. Google – nicht immer zur Freude ihres Arztes. 

Sie informieren sich über Diagnosemethoden oder Therapien, die ihnen der Arzt oder die Ärztin vorgeschlagen hat. Damit wissen viele Patienten heute deutlich besser Bescheid über ihr jeweiliges Gesundheitsproblem oder ihre Krankheit – und können damit auch besser eine mündige, informierte Entscheidung treffen. 

Dennoch ergab die Umfrage der Bertelsmann Stiftung: 

  • 23 Prozent der Befragten favorisieren es nach wie vor, dass der Arzt oder die Ärztin alleine entscheidet
  • 18 Prozent der Patienten entscheiden sogar komplett selbst – ohne den Arzt. Der jeweilige Bildungsstand und das Alter spielen dabei mit.

 

Wie funktioniert Shared Decision Making?

Das Shared Decision Making bedeutet, dass Sie an allen wichtigen Entscheidungsprozessen beteiligt sind. Allerdings geht es nicht darum, dass Sie genauso kompetent sind wie Ihr Arzt! Das können Sie auch gar nicht, denn er hat Ihnen ein langjähriges Medizinstudium voraus. Vielmehr erhalten Sie – in laienverständlicher Form – sämtliche Informationen von Ihrem Arzt, die für Ihre persönliche Entscheidungsfindung wichtig sind. 

  • Das Shared Decision Making erfordert also auch von Ihrem Arzt besondere kommunikative Fähigkeiten und einen guten Kommunikationsstil.
  • Er sollte immer zugewandt, freundlich und verständnisvoll mit Ihnen sprechen.
  • Außerdem sollte er Ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten zum Verstehen medizinischer Sachverhalte und Zusammenhänge berücksichtigen. Es bringt nicht viel, wenn der Arzt Ihnen sein Fachchinesisch um die Ohren haut.

 

Die folgende Grafik zeigt schematisch, wie eine gute Patientenversorgung gelingen kann:

Shared Decision Making - wichtige Schritte

Die partizipative Entscheidungsfindung umfasst mehrere Schritte. Die wichtigsten sind:

  • Der Arzt oder die Ärztin erklärt Ihnen Ihre Diagnose und Krankheit ohne medizinisches Kauderwelsch, damit Sie anschließend gut im Bild sind.
  • Er informiert Sie über alle Behandlungsmöglichkeiten sowie deren Alternativen. Außerdem bekommen Sie ausführliche Informationen über die Vor- und Nachteile sowie Nutzen und mögliche Risiken. Ärzte orientieren sich bei ihren Vorschlägen an den Richtlinien der Schulmedizin (sog. „evidence based medicine“ oder evidenzbasierte Medizin). Darunter verstehen Ärzte das derzeit beste, verfügbare Wissen über Diagnoseverfahren und Therapien vieler Krankheiten. Im Rahmen klinischer Studien haben Forscher die Wirksamkeit nachgewiesen. Bei Prostatakrebs könnte die Therapieentscheidung auch das beobachtende Abwarten sein, bei der man zunächst auf eine Therapie verzichtet.
  • Sie erhalten von Ihrem Arzt Entscheidungshilfen, zum Beispiel Patienteninformationen als Broschüren, oder Adressen, unter denen Sie im Internet verlässliche medizinische Informationen finden. Zu Prostatakrebs bieten beispielsweise die Krebsorganisationen wie die Deutsche Krebsgesellschaft, das Deutsche Krebsforschungszentrum oder die Deutsche Krebshilfe Informationen an.
  • Bei der Entscheidungsfindung spielen immer auch Ihre individuellen LebensumständeVorliebenWerte und Wünsche eine wesentliche Rolle.
  • Sie können Ihrem Arzt alle Fragen stellen, die Ihnen auf dem Herzen liegen. Fragen Sie auch immer nach, wenn Sie etwas nicht verstanden haben. Teilen Sie ihm zudem Ihre Gedanken, Sorgen, Ängste und Nöte, aber auch Ihre Erwartungen mit. Umgekehrt darf der Arzt Ihnen ebenfalls dazu Fragen stellen, um herauszufinden, welche Therapie am besten zu Ihnen passt.
  • Sie wägen gemeinsam mit Ihrem Arzt alles gut gegeneinander ab, loten sämtliche Möglichkeiten aus und erst dann treffen Sie Ihre Entscheidung.
  • Im besten Fall steht am Ende aller Überlegungen ein Plan, wie Sie die Entscheidungen anschließend gemeinsam umsetzen.

 

Was bewirkt die gemeinsame Entscheidungsfindung?

Eine Auswertung vieler Studien ergab, dass das Shared Decision Making tastsächlich positive Wirkungen zeigt:

  • So stärkt es das Vertrauen der Patienten und Patientinnen in die eigenen Entscheidungen und hilft, ein Stück weit die Kontrolle über die Erkrankung und das eigene Leben wiederzugewinnen.
  • Außerdem führt das Shared Decision Making zu einem Wissensgewinn und mehr Teilhabe.
  • Eine gelungene Kommunikation zwischen Arzt und Patient wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus: Ist der Dialog vertrauensvoll, halten sich Patienten doppelt so oft an die Empfehlungen ihres Arztes und zeigen eine größere Therapietreue.
  • Auch Komplikationen im Krankheitsverlauf sind seltener, zum Beispiel bei einer Krebserkrankung. So waren Krebspatienten, deren Ärzte sich gut mit der partizipativen Entscheidungsfindung auskannten, weniger depressiv und ängstlich.

 

Shared Decision Making in Deutschland: Stand

Dennoch gibt es beim Shared Decision Making in der Onkologie noch erheblichen Verbesserungsbedarf, wie die Nationale Krebskonferenz des Bundesministeriums für Gesundheit 2017 feststellte:

Shared Decision Making – Stand der Dinge

  • Das Shared Decision Making wird noch nicht ausreichend umgesetzt: Mindestens die Hälfte der Krebspatienten und -patientinnen erlebt die Teilhabe in Entscheidungssituationen noch als eingeschränkt.
  • Bislang sind medizinische Entscheidungshilfen nur für wenige Entscheidungssituationen verfügbar.
  • Ärzte und Ärztinnen nehmen Trainingsmaßnahmen für das Shared Decision Making noch zu selten wahr.
  • Nur wenige Universitäten bieten bislang Trainings zur partizipativen Entscheidungsfindung für Studierende an, aber es werden mehr.
  • Auch in Kliniken ist das Shared Decision Making noch keine Routine. Oft sind Zeitdruck oder bestehende Hierarchien die Gründe. So hilft die partizipative Entscheidungsfindung nicht viel, wenn der Chefarzt oder die Chefärztin anschließend alles über den Haufen wirft.

Fazit: Das Konzept der Shared Decision Making stößt auf breite Zustimmung bei Patienten, Patientinnen, Ärztinnen und Ärzten – aber an der Übertragung auf den medizinischen Alltag hapert es noch.

Quellen: