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Aktive Überwachung – wer profitiert, wer nicht?

30. November 2022 | von Ingrid Müller

Die aktive Überwachung ist eine Strategie bei Prostatakrebs. Die regelmäßige Kontrolle des Tumors und der Verzicht auf eine Therapie eignen sich aber nicht für alle Männer. Wem hilft die active surveillance langfristig, wem nicht? Das brachte eine schwedische Studie ans Licht.

Die aktive Überwachung (engl. active surveillance) ist eine Strategie bei Prostatakrebs, bei der Ärztinnen und Ärzte den Tumor und seine Eigenschaften nur in regelmäßigen Abständen kontrollieren. Dies geschieht durch die digital-rektale Untersuchung (DRU), Bestimmung des PSA-Wertes, Magnetresonanztomografie (MRT) und Gewebeproben aus der Prostata (Biopsie). 

Einer Krebstherapie wie einer Operation oder Bestrahlung müssen sich Männer bei der aktiven Überwachung (zunächst) nicht unterziehen – und sparen sich unangenehmen Folgen, zum Beispiel die Erektile Dysfunktion oder Inkontinenz. Die aktive Überwachung kommt aber nicht für alle Männer in Frage. Vielmehr muss ihr bösartiger Tumor in der Prostata bestimmte Kriterien erfüllen. Dazu gehören: ein PSA-Wert von unter 10, ein Gleason-Score nicht höher als 6 und nicht mehr als zwei Stanzen aus der Biopsie, in denen sich Krebszellen nachweisen lassen. 

Zusammengefasst: Der Prostatakrebs muss sich noch im Frühstadium befinden, darf sich noch nicht ausgebreitet haben und muss wenig aggressiv sein. Und: Verändern sich die biologischen Eigenschaften, ist Handeln gefragt. Ärztinnen und Ärzte beginnen mit einer Krebstherapie, zum Beispiel einer Operation oder Strahlentherapie. 

Aktive Überwachung

Lesen Sie, was die aktive Überwachung ist und für welchen Mann mit Prostatakrebs sie in Frage kommt. Außerdem: Warum viele Männer sie abbrechen.

Prostata Hilfe Deutschland: Illustrationsbild Aktive Überwachung bei Prostatakrebs - Arzt mit Röntgenbild
© ikostudio/Adobe Stock

Studie mit fast 24.000 Männern mit Prostatakrebs

Forschende von der schwedischen Universität Uppsala um Dr. Eugenio Ventimiglia wollten jetzt in einer Studie wissen, ob und welche Männer langfristig von der aktiven Überwachung profitieren. Sie entwickelten ein Rechenmodell und analysierten die Daten von 23.665 Männern, die in der Schwedischen Prostatakrebsdatenbank (Prostate Cancer Data Base Sweden) registriert waren. 

Alle Männer waren im Alter von 40 bis 75 Jahren an einem frühen  Prostatakrebs erkrankt. Im Schnitt waren sie bei der Diagnose 69 Jahre alt. Der Tumor war noch auf die Prostata begrenzt, hatte die Kapsel noch nicht durchbrochen und sich noch nicht auf umliegendes Gewebe oder andere Organe ausgebreitet. 

Eingeteilt wurde ihr Prostatakarzinom entweder in ein sehr niedriges, niedriges oder mittleres Risiko, dass der Krebs weiter fortschritt. Das Fachwort dafür ist „Progressionsrisiko“. 16.177 Männer hatten sich für die aktive Überwachung entschieden, 7.478 für die Strategie „Abwarten und Beobachten“ (watchful waiting). Keiner der Männer hatte also zunächst eine Therapie gegen seinen Prostatakrebs erhalten. Die Forschenden untersuchten im Rückblick über einen Zeitraum von 30 Jahren, wie sich das Prostatakarzinom entwickelt hatte. 

IProstata Hilfe Deutschland: Portraitfoto - Dr. Schiefelbeinnterview mit unserem Experten für Prostatakrebs

Dr. Frank Schiefelbein, Urologe und Chefarzt  an der KWM Missioklinik, Würzburg

Herr Dr. Schiefelbein, warum ist die Einschätzung so schwierig, ob die aktive Überwachung möglich ist?

Die Frage, welche Therapie zu welchem Mann bei Prostatakrebs passt, ist in der Tat komplex, weil mehrere Faktoren dabei mit spielen. Die Leitlinien geben klare Empfehlungen, für welchen Mann die aktive Überwachung geeignet ist – und für welchen nicht.  Außerdem unterstützt uns heute die Bildgebung, etwa der Ultraschall oder die MRT. Die neuen Geräte haben eine sehr gute Auflösung und können uns auf jeden Fall etwas über den Tumor sagen. 

Wie nähern Sie sich der Entscheidung für oder gegen eine aktive Überwachung an?

Die Höhe des PSA-Wertes ist eine wichtige Voraussetzung genauso wie der Gleason-Score und die Anzahl der Stanzen aus der Biopsie, die Krebszellen enthalten. Anhand dieser Faktoren können wir die Männer schon richtig zu einer Therapie beraten. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir es mit einem bösartigen Tumor zu tun haben. Bei einer aktiven Überwachung therapieren wir den Tumor ja nicht. Wir bestrahlen nicht, wir operieren nicht. Das ist auch für den Patienten keine einfache Situation.

Wie kommen Männer damit klar, wenn zunächst keine Therapie stattfindet?

Die Frage der Sicherheit ist nach meiner Erfahrung für die Männer oft entscheidend. Manche sagen von vornherein: ‚Ich möchte den Tumor entfernt haben‘ oder ‚Ich fühle mich sicherer, wenn wir den Tumor mit einer Bestrahlung behandeln‘. Wir müssen immer auf jeden Patienten einzeln eingehen und seine Wünsche berücksichtigen. Aber wir haben durch die Bildgebung und den PSA-Wert eine relativ hohe Sicherheit und können Männer somit auch beruhigen.

Das ausführliche Interview zur aktiven Überwachung mit Dr. Frank Schiefelbein in Video und Text finden Sie hier »»

Aktive Überwachung – für wen nicht? 

Für jüngere Männer unter 60 Jahren, die an einem Prostatakrebs mit mittlerem Risiko erkrankt waren, war die aktive Überwachung keine ausreichend gute Strategie. Im Vergleich hatten sie ein höheres Risiko, vor dem 85. Lebensjahr an ihrem Prostatakrebs zu sterben. Im Einzelnen sah es so aus:

  • Das Sterberisiko für die Gruppe mit mittlerem Risiko lag bei 15 Prozent, wenn sie die Diagnose Prostatakrebs mit 55 Jahren erhalten hatten. Für Männer mit einem Prostatakrebs der Niedrig-Risiko-Kategorie betrug das Sterberisiko dagegen 13 Prozent, bei sehr niedrigem Risiko nur 9 Prozent. 
  • Für Männer, die ihre Prostatakrebs-Diagnose erst mit 70 Jahren erhalten hatten, lag das Sterberisiko bei 7, 6 beziehungsweise 3 Prozent (mittleres, niedriges, sehr niedriges Risiko).

 

Unterschiedlich war – je nach Risikogruppe – auch die Lebenszeit, die Männer ohne Krebstherapie auskamen.

  • Bei einer Krebsdiagnose im 55. Lebensjahr lag diese Zeitspanne für Männer mit sehr niedrigem Risiko zwischen 12 und 25 Jahren (48 Prozent), für niedrig-Risiko-Tumore zwischen 9 und 25 Jahren (36 Prozent) und für Prostatakrebs mit mittlerem Risiko zwischen 7 und 25 Jahren (29 Prozent). 
  • Demnach war auch die Zeit, in der die Männer mit mittlerem Risiko keine Therapie wie eine Operation oder Bestrahlung brauchten, vergleichsweise gering. Sie betrug höchstens ein Drittel ihrer verbleibenden Lebenszeit. 
  • Für Männer mit einer Prostatakrebsdiagnose erst im 70. Lebensjahr errechnet die Forscher folgende Zahlen für die therapiefreie Lebenszeit: 10 von 13 Jahren (77 Prozent bei sehr niedrigem Risiko), 9 von 13 Jahren (66 Prozent bei niedrigem Risiko) und 8 of 13 Jahren (60 Prozent bei mittlerem Risiko).

 

Aktive Überwachung

Lesen Sie, wie Sport die Angst bei der aktiven Überwachung vertreiben kann und sich Männer somit sicherer fühlen können.

Prostata Hilfe Deutschland: Mann joggt auf Hartplatz
(c) FOTOKITA/iStock

Aktive Überwachung – diese Männer haben Vorteile

Männer mit einem Niedrig-Risiko-Prostatakrebs, der erst nach dem 65. Lebensjahr festgestellt worden war, profitierten dagegen von der aktiven Überwachung. Die Sterblichkeitsrate lag bei ihnen bei höchstens fünf Prozent. Darüber hinaus betrug der Anteil der Lebensjahre ohne Krebstherapie bei diesen Männern zwischen 62 und 77 Prozent. Für diese Männer sei die aktive Überwachung eine sichere Strategie, so das Fazit der Forschenden.

Auch für Männer mit einem Prostatakrebs, die bei der Diagnose unter 65 Jahre alt waren und bei denen der Tumor ein sehr niedriges Risiko aufwies, eigne sich die aktive Überwachung eventuell, schreiben die Forschenden. Nur etwa neun Prozent waren vor dem 85. Lebensjahr an ihrem Prostatakarzinom gestorben. Wer die Diagnose beispielsweise mit 55 Jahren erhielt, konnte anschließend noch ungefähr die Hälfte seiner Lebenszeit ohne Krebstherapie verbringen. 

Fazit: Die aktive Überwachung sei eine sichere Strategie für Männer, die erst nach dem 65. Lebensjahr die Diagnose Prostatakrebs erhielten.

Aktive Überwachung erspart Nebenwirkungen

Prostatakrebstherapien wie eine Operation (radikale Prostatektomie), Bestrahlung (von innen oder außen), Hormontherapie oder Chemotherapie besitzen nicht unerhebliche Nebenwirkungen. Viele Männer haben zum Beispiel nach einer Op oder Strahlentherapie mit einer Erektilen Dysfunktion und Inkontinenz zu kämpfen. Auch langfristig können Krebsbehandlungen viele unangenehme Folgen haben, zum Beispiel Herz-Kreislauf-Probleme oder die Entwicklung einer anderen Krebsart. Ärztinnen und Ärzte müssen daher immer genau anhand verschiedener Parameter analysieren, welchen Mann zunächst ohne Krebstherapie auskommt und wer unbedingt eine Tumorbehandlung braucht. 

Ahmed O. Elmehrath von der Cairo University, Ägypten, schreibt in einem begleitenden Editorial zur Studie: „Die aktive Überwachung ist ein Balanceakt. Auf der einen Seite gilt es, unnötige Behandlungen zu reduzieren und somit auch das Risiko von Nebenwirkungen, und auf der anderen Seite die Gefahr zu vermindern, am Prostatakrebs zu sterben.“

Quellen: